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Verdichtetes und nicht ganz Dichtes

Interviews

Henner Raabe im Interview mit Renate Schernus

Vielen Dank an den Psychiatrie-Verlag, dass das Interview aus den Sozialpsychiatrischen Informationen (4/2016 – 46. Jahrgang) hier erneut veröffentlicht werden darf:

Ich werde nie wieder eine grüne Wiese sehen

Gespräch über Diagnosen und weit darüber hinaus

Henner Raabe[1] und Renate Schernus

Vorbemerkung: Dr. Henner Raabe ist 34 Jahre alt. Er studierte nach einer krankheitsbedingten Pause von ca. drei Jahren Philosophie und Kulturwissenschaften, schloss mit dem Master ab und promovierte anschließend in Philosophie. Derzeit arbeitet er als Referent einer Stadt in Niedersachsen. Im Verlauf mehrerer klinischer, teilstationärer und ambulanter Behandlungen hat er sich mit den Diagnosen schizoaffektiv, bipolar und manisch-depressiv auseinander gesetzt.

Schernus: Herr Raabe, wenn Sie Psychiater wären, und eine Diagnose stellen müssten, welche Frage hätten Sie einem Patienten, der Symptome und Erlebnisse hatte wie Sie selbst, als erstes gestellt?

Raabe: (Denkt lange nach) Ich glaube die schlichte Frage: „Wie war das für Sie?“ oder „Was haben Sie erlebt?“

Schernus: Diese nahe liegenden Fragen wurde Ihnen nicht gestellt?

Raabe: Nein – in der geschlossenen Abteilung nicht und auch später nicht. Die geschlossene Psychiatrie war wie ein Albtraum für mich. Unter den Medikamenten ging es mir extrem schlecht. Ungefähr eine Woche ist aus meinem Gedächtnis vollkommen ausgelöscht. Und als ich wieder einigermaßen bei mir war, hatte ich das unerträgliche Gefühl, nie wieder raus zu kommen. Das manifestierte sich in dem Gedanken: „Ich werde nie wieder eine grüne Wiese sehen!“

Schernus: Vielleicht wäre Ihnen im akuten Zustand eine zusammenhängende Antwort gar nicht möglich gewesen?

Raabe: Für mich wäre es auf jeden Fall auch im akuten Zustand wichtig gewesen, wenn sich jemand alles, was in meinem Kopf vorging und mich mit meinen damals 21 Jahren in einem ungeheuren Übermaß ausfüllte, angehört hätte. Vielleicht wäre es unzusammenhängend gewesen, aber es hätte mir auf jeden Fall geholfen, wenn mir jemand zugehört hätte.

Schernus: Mir scheint, was Sie sagen berührt etwas sehr Wichtiges, nämlich, dass sich Diagnose und Therapie nicht so ohne Weiteres trennen lassen. Die Behandler haben vermutlich gemeint, sie wissen genug von Ihnen, um Sie diagnostizieren und behandeln zu können.

Raabe: Ich habe eigentlich nichts gegen Diagnosen, im Gegenteil. Ich wollte durchaus von den Profis einen Namen für das, was ich erlebt habe, hören, aber dieser Name hätte doch wenigstens annäherungsweise mit dem zu tun haben müssen, was ich erlebt habe. Dafür hätten sich die Profis für meine Erlebnisse aber interessieren müssen. In der geschlossenen Abteilung habe ich überhaupt nichts von einer Diagnose gehört, auch nicht gegen Ende der Behandlung. Gespräche über das, was ich erlebt habe, gab es auch keine.

Schernus: Wann sind Sie denn das erste Mal mit einem Namen, einer Diagnose konfrontiert worden?

Raabe: Das war bei meinem ersten Tagesklinikaufenthalt. Der Psychologe druckste zunächst aber auf meine Fragen eher herum. Er sprach von Psychose, von endogen, und dass ich Einsicht in die Krankheit haben müsse, dass ich damit umgehen lernen müsse usw. Erst auf genaueres Nachfragen rückte er mit der Diagnose „schizoaffektive Psychose“ heraus. Ich versuchte, mir dieses Wort zu erklären, konnte auch etwas damit anfangen, nämlich, dass mein Zustand mit Gefühlen und Affekten zu tun hatte, ich dachte, dass die Silben „schizo“ vielleicht auf das Auf und Ab in meinem Gefühlsleben hinweisen sollten, aber so richtig passte „schizo= gespalten“ nicht. Jedoch einen Namen zu haben, wenn auch einen etwas kryptischen, schulmedizinischen für das, was mir passiert war, fand ich gut.

Schernus: Manche psychiatrie-erfahrene Menschen meinen, dass man in der Psychiatrie auch ganz ohne Diagnosen auskommen und so Stigmatisierungen vermeiden könne. Was halten Sie davon?

Raabe: Das Problem an den Diagnosen ist das Schwarz-Weiß-Malen, das Schubladendenken, zum Beispiel in diesem – wie heißt das? – ICD. Wir Menschen brauchen das ja einerseits, aber so richtig funktioniert es nicht, da es immer fließende Übergänge gibt. Dennoch: Diagnosen können hilfreich sein. Die Benennung kann hilfreich und praktisch sein. Es hätte mir damals sehr geholfen, wenn man mir gesagt hätte, dass ich eine bipolare Störung habe, aber auch das Aussprechen der Diagnose „schizoaffektive Psychose“ war schon positiv für mich. Nein – eigentlich finde ich Diagnosen ganz gut, aber der Umgang der Therapeuten mit Diagnosen war für mich wenig hilfreich bis vollkommen katastrophal.

Schernus: Was meinen Sie mit katastrophal?

Raabe: Nach einer zwischenzeitlichen ambulanten Behandlung, bei der ich meines Erachtens immer noch psychotisch war, kam ich zum zweiten Mal in die geschlossene Abteilung und dann wiederum in die Tagesklinik. Dort hat eine Ärztin zu mir gesagt, dass ich wegen meiner Krankheit nie werde studieren und nie alleine werde wohnen können, und dass ich mich nach irgendeinem praktischen Job, in einer Tischlerei zum Beispiel, umsehen müsste. Ich sehe das Handwerk keineswegs als etwas Negatives an, eher das Gegenteil ist der Fall, aber in dem damaligen Kontext, war es für mich ein vernichtendes Urteil. Damals ist auch meine Wohnung gekündigt worden. Die schreckliche Prognose, die ja als professionelles Wissen vorgetragen wurde, hat mir jede Zukunftsperspektive genommen und mich in eine tiefe Depression gestürzt. Ich hatte lange Zeit ganz konkrete Selbstmordgedanken und hatte mir schon verschiedene Hochhäuser ausgesucht, von denen ich hätte springen können.

Schernus: Es ist also nicht nur wichtig, wie man als Patient mit der Diagnose umgeht, sondern es ist genauso wichtig, eigentlich noch wichtiger, wie die Profis mit Diagnosestellungen im Gespräch mit Patienten umgehen, da sie damit entscheidende Weichen stellen können. Was hat bei Ihnen die Wende gebracht? Wodurch konnte die Weiche wieder umgestellt werden?

Raabe: Zum Glück hat mir mein Onkel vorgeschlagen ihn zu besuchen. Er lebt als Lehrmeister in einem buddhistischen Kloster. Mein Onkel hat mir einen ganz anderen Blick auf meine Krankheit und ein anderes Verständnis von ihr ermöglicht.

Schernus: Hat Ihr Onkel die Diagnose infrage gestellt?

Raabe: Nein – er hat mir lediglich eine andere Interpretation meiner Erlebnisse ermöglicht. Er hat mir ein wunderschönes Gleichnis erzählt. Das ungefähr so ging:  

Das Wesen der Welt oder das kosmische Bewusstsein ist von so etwas wie einer Erdkruste umgeben und jemand der nach spiritueller Erkenntnis strebt, ist bemüht, durch diese Kruste hindurch an das Magma zu kommen. Die sogenannten normalen Leute machen das ganz vorsichtig, bohren sich vorsichtig hindurch, bis etwas Lava an die Oberfläche sickert. Und jemand wie ich hat diese Kruste mit einem Schlag durchbrochen und das ganze Magma ist als Lava mit einem Mal ausgebrochen und hat die Seele überflutet, statt sie Stück für Stück zu nähren.

Durch diese Auslegung wurde mein als krankhaft bezeichnetes Erleben nicht entwertet. So konnte ich mich allmählich von der Lähmung durch die vernichtende Prognose, der Ärztin befreien. Sie meinte ja aus der Diagnose diese negative Prognose ableiten zu können. Für mich jedoch war die psychotische Episode an sich positiv. Es war ein Geschenk, dass ich erleben konnte, wie es ist Gott auf der Straße zu treffen. Ich würde sagen, die psychotische Erfahrung hat mich spirituell vorangebracht. Aber den Umgang damit von Seiten der psychiatrischen Profis habe ich größtenteils als negativ erlebt. Bis zu dem Urteil der Ärztin hatte ich das Gefühl, in meiner Persönlichkeit gefestigt zu sein. Danach war etwas in mir zerbrochen, ich war sehr verunsichert und habe ängstlich versucht mich anzupassen.

Schernus: Jetzt wirken Sie auf mich ziemlich selbstsicher. Sehen Sie das auch so?

Raabe: Das kann schon sein. Die psychotische Episode liegt ja jetzt schon über 15 Jahre zurück. Eine Krankenpflegerin in einem Reha Zentrum hat mir ganz entscheidend geholfen, meine Selbstsicherheit allmählich wieder zurück zu gewinnen. Sie hat mir nämlich gesagt, ich müsse unbedingt versuchen zu studieren. Das hat mich ermutigt, das Studium noch während der Reha anzufangen, was auch gut geklappt hat. Davor hatte ich wegen der von der Ärztin ausgesprochenen schlechten Prognose das Gefühl gehabt, ich müsste entgegen meinem eigentlichen Wunsch Zimmermann werden oder Tischler und habe auch entsprechende Praktika gemacht.

Schernus: Der von ihnen erwähnte Psychologe hat sich ja bemüht, Ihnen „Krankheitseinsicht“ nahe zu bringen. Verstehen Sie Ihren damaligen seelischen Zustand als Krankheit und wenn ja, ab wann?

Raabe: Zunächst konnte ich meinen Zustand nicht als Krankheit sehen, geschweige denn akzeptieren. Das Erlebte war zu außergewöhnlich, zu besonders, als dass es einfach als Krankheit hätte abgetan werden können. Das Krankheitsverständnis wurde mir aufgenötigt, war eine aufgenötigte Einsicht. Mein Umfeld hat mir den Krankheitsbegriff aufgedrängt, nicht nur die Psychiater. Jetzt würde ich sagen, ich habe eine psychische Erkrankung, aber die Erlebnisse, die ich hatte, waren nicht nur krank. Längere Zeit hatte ich das Gefühl meine psychotischen Erfahrungen seien so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal. Ich sei etwas Besonderes, weil ich diese besonderen Dinge erleben durfte. Mittlerweile ist die Psychose ein Teil meiner Vergangenheit, der meinen Horizont erweitert hat.

Schernus: Wenn Sie sich selbst eine Diagnose hinsichtlich Ihres damaligen Zustandes stellen müssten oder wollten, wie würde die dann in Ihren eigenen Worten lauten?

Raabe: Ich würde meinen damaligen Zustand wohl eher als spirituelles, religiöses Erleben beschreiben. Die psychotische Erfahrung hat mich spirituell wach gerüttelt.

Schernus: Sehen Sie das durchgängig so?

Raabe: Das sehe ich gemischt, ich bin Skeptiker und Zweifler. Bis zur psychotischen Erfahrung war ich Hardliner-Atheist, hatte mich aber bereits in der Schulzeit mit Philosophie und Religion beschäftigt. Ich hatte z. B. einige Zeit vor der Psychose ein Buch über Weltreligionen gelesen, das mich sehr interessiert hat. In der Psychose hatte ich so eine Art Erweckung. Die Psychose hat mir deutlich gemacht, dass es viel mehr gibt als die materielle Welt. Ich habe sozusagen über die Mauer geschaut und bin ein bisschen religiöser geworden. Ich bin aber weder Buddhist noch Christ, habe mir meine eigene Religion zusammengebastelt.

Schernus: Bisher haben Sie vor allem den Aspekt des eigenen Erlebens und die spirituelle Deutung betont. Wie war denn Ihr Verhalten während der Psychose für Ihr Umfeld? Wie klappte die Kommunikation?

Raabe: Meine Eltern waren sehr besorgt und haben – natürlich ohne Erfolg – immer wieder versucht, mich gerade zu rücken. Ich war wohl auch sehr viel lauter als sonst. Für mich war die Kommunikation mit den Eltern wie ein Spiel, ein Spiel, das für die Umwelt jedoch nicht verständlich war. Insofern klappte die kommunikative Feinabstimmung nicht mehr so richtig. In der Psychiatrie habe ich z. B. nur auf französische und englische Ansprache reagiert. Meine damalige Freundin hingegen hat mir übrigens alles geglaubt. Außerdem erinnere ich mich, dass ein Amerikaner mich gefragt hat, ob ich erleuchtet sei.

Schernus: Auf manche Menschen haben Sie anscheinend ziemlich überzeugend gewirkt. Aber jetzt noch eine andere Frage: Wenn die Feinabstimmung nicht klappt, besteht ja die Gefahr, dass man aggressiv reagiert. Kam das bei Ihnen vor?

Raabe: Ich erinnere mich, dass ich einem Mann auf der Straße eine Tasche weggerissen habe, ich weiß nicht mehr warum. Dabei hatte ich jedoch keinen aggressiven Impuls. In der Psychiatrie habe ich einen Psychiater, den ich eigentlich sehr nett fand, am Hals gepackt. Damit wollte ich jedoch nur eine Szene aus „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“ nachspielen.

Schernus: Das konnte leicht als Aggression missverstanden werden.

Raabe: Ja, aber der Psychiater hat sehr ruhig und klug reagiert und einfach gesagt: „Herr Raabe, bitte lassen Sie meinen Hals los“ und das habe ich dann natürlich auch sofort gemacht.

Schernus: Wie gehen Sie in der Öffentlichkeit mit der psychiatrischen Diagnose um?

Raabe: Im privaten Kreis, bei Freunden und Familie, habe ich gar keine Probleme zu sagen, ich bin bipolar erkrankt oder ich bin manisch depressiv. Im Berufsleben bin ich da allerdings noch sehr vorsichtig. Es gibt noch viel Misstrauen psychischen Erkrankungen gegenüber und ich möchte mir nicht durch einen Stempel Möglichkeiten verbauen. Die Diagnose bipolare Störung habe ich mir übrigens leider erst sehr spät aneignen können. Ich hatte davon gelesen und habe meine Neurologin gefragt, ob das nicht auch auf mich passe. Sie hat dann gesagt, ja, das kann man so sehen. Für mich beschreibt manisch depressiv oder bipolar das, was ich erlebt habe, sehr viel besser als der für mich sehr sperrige Begriff schizoaffektiv. Ich war als Kind schon sehr schwankend in meinen Gefühlen und habe auch jetzt noch ziemliche Stimmungsschwankungen. In meiner Sprache würde ich allerdings nie sagen „ich bin jetzt etwas manisch“. In meiner Sprache heißt das: ich bin jetzt energiegeladen oder ich bin niedergeschlagen oder einfach „mir geht’s schlecht“. „Ich bin depressiv“ ginge auch noch. Inzwischen ist mir die Benennung aber ziemlich egal. Ich brauche die Diagnose sozusagen nicht mehr. Zwar bedeutet das Bipolare in mir so manches Mal harte Arbeit, aber ich habe es als Teil von mir angenommen und daher ist es mir ziemlich egal wie man es nennt.

Schernus: Wie stehen Sie denn bei Ihrer Deutung der psychotischen Erfahrung zu den Medikamenten?

Raabe: Ich weiß nicht, ob ich ohne Medikamente stark genug gewesen wäre, aus der Psychose raus zu kommen. Noch immer nehme ich nach Möglichkeit gar keine und wenn dann nur sehr ungern Medikamente, weiß aber, dass sie mir helfen können, vor allem wenn es mir gerade sehr schlecht geht. Nach den Klinikaufenthalten habe ich an einem Psychoedukationskurs teilgenommen. Die Informationen über biochemische Prozesse im Gehirn haben mir sehr geholfen, vor allem die Beschreibung, dass das Gehirn von Reizen überflutet werden kann, die es nicht normal umsetzen kann, leuchtete mir ein.

Schernus: Sehen Sie da keinen Widerspruch zu Ihrer spirituellen Interpretation?

Raabe: Wie gesagt bin ich Skeptiker und Zweifler und so hinterfrage ich manchmal die Schulmedizin und manchmal das spirituelle Erleben. Im Augenblick neige ich dazu zu akzeptieren, dass alles menschliche Erleben im Gehirn eine biologische Grundlage hat, und dass das die spirituelle Dimension nicht entwertet. Für mich gilt rückblickend für das Erlebte beides: viel Krankes und viel Spirituelles ist dabei gewesen.

Schernus: Mir fiel während unseres Gespräches auf, dass Sie mehrfach sagten: „Ich habe eine psychische Erkrankung“ und nicht: „Ich hatte …“. Weiten Sie da nicht die psychiatrische Diagnose, sozusagen freiwillig, auf Ihr normales Befinden aus? Sie schilderten ja, dass Stimmungsschwankungen von Kindheit an zu Ihnen gehören.

Raabe: Das ist eine gute Frage, die mich quasi täglich beschäftigt. Emotionen kann man ja leider nicht anfassen. Daher ist die Entscheidung ob das Gefühl gerade gesund oder krank ist sehr schwierig. Emotionen sind immer real und ich erlebe sie immer sehr intensiv. Dabei hilft mir tatsächlich oft, sie als unnormal abzustempeln, um nicht vollkommen zu verzweifeln. Ich würde sagen ich hatte eine Psychose und war Psychotiker. Aber auch „ich habe eine psychische Krankheit“. Klar könnte ich sagen, dass die Stimmungsschwankungen Teil meiner Persönlichkeit sind, aber sie sind mitunter, gerade in schlechten Phasen, so stark, dass ich sie nicht als „normal“ akzeptieren möchte. Es ist eine Gratwanderung. Vielleicht könnte man einfach sagen, ich bin eine wankelmütige Person, von mir aus auch eine bipolare Person. Wobei ich gelernt habe die Schwankungen gut zu kontrollieren, so dass es meinem Umfeld meistens gar nicht auffällt, wenn ich innerlich am Boden liege.

Schernus: Jetzt verstehe ich besser, warum Sie im Präsens von bipolar, bzw. von manisch –depressiv sprechen. Tatsächlich lässt sich Gesundheit sehr schwer definieren. Die Übergänge zwischen gesund und krank sind fließend und das subjektive Empfinden muss nicht unbedingt einem beobachtbaren Befund entsprechen. Von Nietzsche ist der Satz überliefert: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ Vielleicht trifft das in etwa auf Sie zu. Dieses Thema zu vertiefen würde aber, denke ich, ein neues Gespräch erfordern.

Raabe: Ich würde gerne zum Schluss noch eine Frage an Sie richten. Wie nimmt eigentlich ein Profi wie Sie derlei Psychoseschilderungen auf? Mit Neugier oder womöglich mit dem Wunsch eine ähnliche Erfahrung zu machen? Bei mir war es früher (!) bei Schilderungen von Drogenerlebnissen wie bei Carlos Castaneda so, dass ich gerne auch solche Erfahrungen gemacht hätte, da war es fast schon Neid. Aber ich hätte niemals halluzinogene Pilze oder LSD genommen. Vielleicht bin ich daher auch so „dankbar“ für die Bewusstseinserweiterung durch das Psychoseerlebnis.

Schernus: Was die Neugier betrifft, denke ich, wer in der Psychiatrie arbeitet, sollte interessiert sein an den subjektiven Erlebnisweisen der Menschen, mit denen er beruflich in Berührung kommt. Wenn man das ist, kann man eigentlich nicht daran vorbeisehen, dass sehr viele Menschen während Ihrer Psychosen religiöse, bzw. spirituelle Erlebnisse haben, allerdings häufig auch sehr quälende. Zu Ihrer zweiten Frage: nein, tatsächlich habe ich den Wunsch nach solchen extraordinären „erleuchteten“ Momenten nicht. Vielleicht kann ich meine Haltung mit einer kleinen Geschichte aus der Tradition des Chassidismus, der jüdischen Mystik, deutlich machen. Die Geschichte  handelt  von  Rabbi  Naphtalie: 

Schon als Kind verblüffte er die Erwachsenen mit seinen schlagfertigen Antworten. Einmal wandte sich ein Gast, der mit seinem Vater befreundet war, an Naphtalie: „Naphtalie, wenn du mir sagst, wo Gott zu finden ist, will ich dir ein Goldstück geben.“ Das Kind antwortete: „Und ich gebe dir zwei, wenn du mir sagen kannst, wo er nicht zu finden ist.“

Also, mir ist wichtig, was im Alltäglichen zu finden ist.

Raabe: Schöne Geschichte! Gott ist überall. Alles ist Gott.

Schernus: Ja, aber diese Einstellung bleibt bei mir genau wie bei Ihnen mit Skepsis und Zweifel verbunden.  

Raabe: Jetzt sind wir weit abgekommen von der Sache mit den Diagnosen.

Schernus: … und wir sollten zum Schluss kommen. Ich bedanke mich für dieses interessante und offene Gespräch.


[1]     Pseudonym

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